Neuer IPCC-Bericht: Weltklimarat verschärft Warnung vor Klimakatastrophe
Jedes Jahr eine Jahrhundertflut an einer Küste, mehr Hochwasserkatastrophen auch im Binnenland und dazu häufigere Stürme, Dürren und Waldbrände mit unabsehbaren Folgen für Bevölkerung und Ökosysteme: Die Menschheit muss sich nach Einschätzung der weltweit führenden Klimaforscher und -forscherinnen auf ungemütliche Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte einrichten. Nach dem am Montag veröffentlichten ersten Teil des neuen Sachstandsberichts des Weltklimarats (IPCC) hat sich der durch den Ausstoß von Treibhausgasen entfachte Klimawandel in den vergangenen Jahren weiter massiv beschleunigt und wird sich mindestens über einige Jahrzehnte noch weiter verschärfen.
Betroffen sind alle Regionen des Planeten und alle Facetten des Klimasystems, von den Temperaturen über den globalen Wasserhaushalt bis hin zu den Eisschilden der Polargebiete. »Viele der beobachteten Klimaveränderungen sind seit Tausenden, wenn nicht Hunderttausenden von Jahren beispiellos«, stellt der IPCC in dem von mehr als 230 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus 66 Ländern erstellten Bericht fest. Aktuell erscheint der Beitrag der Arbeitsgruppe I, die sich mit den physikalischen Grundlagen des Klimawandels befasst hat. Wo und wie sich die Erwärmung auswirken wird, kann man in einem interaktiven Atlas des IPCC erforschen.
Einige Veränderungen, die von den Treibhausgasen verursacht werden, seien schon jetzt irreversibel, heißt es darin. Der Meeresspiegel werde weiter ansteigen, die Ozeane noch stärker versauern, die arktischen Eisschilde weiter abschmelzen – und das über Jahrhunderte bis Jahrtausende. So lange dauert es, bis das vom Menschen ausgestoßene Kohlendioxid wieder aus der Atmosphäre verschwindet.
Die Experten gehen darum davon aus, dass die Folgen des Klimawandels in den kommenden Jahrzehnten in allen Weltgegenden weiter zunehmen werden – egal, welche Anstrengungen zur Verminderung von Treibhausgasen unternommen werden. Zur Gleichgültigkeit sollte das aber nicht verleiten, warnen sie. Denn jetzt die Emissionen von Kohlendioxid und anderen Treibhausgasen »rasch, stark und anhaltend« zu verringern, könne den Klimawandel immer noch begrenzen. Es gelte, jedes zehntel Grad weiterer Erwärmung zu vermeiden, denn das reduziere die Gefahr von Extremereignissen und das Erreichen von Kipppunkten mit unkontrollierbaren Folgen für Klima und Ökosysteme, betont Veronika Eyring vom DLR in Oberpfaffenhofen. »Wir übernehmen jetzt die Verantwortung für viele Generationen«, sagt die Leitautorin des Kapitels zum menschlichen Einfluss auf das Klimasystem.
Unvermeidlich ist es nach Ansicht des IPCC-Autorenteams, dass es häufigere und stärkere extreme Hitzeperioden an Land geben wird, Hitzewellen in den Ozeanen selbst, Hochwasser- und Überschwemmungskatastrophen und Dürren. In den Tropen nimmt die Gewalt von Wirbelstürmen den Prognosen zufolge zu, während in der Arktis das Meereis und die Permafrostböden dahinschmelzen. Auch bei einer globalen Erwärmung von nur 1,5 Grad Celsius, wie es dem Pariser Klimaabkommen entspricht, rechnet der IPCC mit immer häufigeren Hitzewellen sowie längeren warmen und kürzeren kalten Jahreszeiten. Steigt die globale Mitteltemperatur dagegen über 2 Grad, mehren sich unter anderem die Tage, an denen kritische Toleranzschwellen für Landwirtschaft und die menschliche Gesundheit erreicht werden, so der Bericht.
Für Europa rechnet der Bericht damit, dass Starkniederschläge stärker und häufiger werden – und damit die davon ausgelösten Überschwemmungen. Auch tief liegenden Küstenregionen würden häufigere Überflutungen drohen. »Extreme Meeresspiegelanstiege, die bisher nur alle 100 Jahre auftraten, könnten bis zum Ende dieses Jahrhunderts jedes Jahr auftreten«, warnen die Fachleute. Auf häufigere und schwerere Dürren in Landwirtschaft und Ökosystemen müssen sich einige europäische Regionen ebenfalls einrichten. Städte dürften weitere Hitzerekorde sammeln. »Die letzten Wochen haben unsere Einschätzung hier nur bestätigt«, sagt die Leitautorin des Kapitels für Extremereignisse, Sonia Seneviratne, mit Blick auf die Hochwasserkatastrophe in Deutschland und die Flächenbrände im Süden Europas. »Wir sind in einer Klimakrise, wir haben wirklich ein sehr großes Problem.«
Erstmals enthält der Bericht auch Einschätzungen dazu, wie stark der menschengemachte Klimawandel zu bestimmten Wetterextremen beiträgt. Darüber, dass die Erderwärmung insgesamt von Menschen verursacht ist, gibt es in der Forschung schon seit Jahrzehnten keine Zweifel. Dank verbesserter Klimamodelle können die Forscher jetzt aber viel besser bestimmen, welchen Anteil er an den Extremereignissen hat. Was mitteleuropäische Hitzewellen angeht, ist er laut dem Bericht beispielsweise »hoch«. Was Starkregen und Dürren angeht, reiche die Datengrundlage nicht aus, um sie hier zu Lande sicher dem Klimawandel zuzuschreiben. Das gelingt für Starkregen bislang nur in Nordeuropa. In Mitteleuropa sind diese Ereignisse noch zu selten, um eine sichere Attribution vornehmen zu können. Die Hochwasserkatastrophe in Deutschland und Belgien sei noch nicht in den Bericht eingeflossen. Daran, dass sich überall in Europa diese Wetterextreme künftig häufen werden, hegen die Experten jedoch keine Zweifel. »Deutschland und Mitteleuropa sind sehr stark betroffen, das ist ganz klar«, sagt Seneviratne.
Bis zu einer Stabilisierung des globalen Temperaturanstiegs wird es selbst im Idealfall 20 bis 30 Jahre dauern, erwarten die Fachleute. Treibhausgase müssten dauerhaft über einen langen Zeitraum verringert werden, um einen Effekt zu sehen, betont Jochem Marotzke vom Hamburger Max-Planck-Institut für Meteorologie, der sich im Bericht mit Projektionen auf Basis verschiedener Szenarien beschäftigt hat. »Wir brauchen einen langen Atem, schnelle Belohnungen gibt es nicht.«
»Wir sind kurz davor, unsere Ziele zu verpassen, das muss wirklich erkannt werden«Sonia Seneviratne, Leitautorin Extremereignisse
Pariser Klimaziele wackeln – Blicke nach Glasgow
Derzeit sind die vom Menschen verursachten Treibhausgasemissionen für etwas mehr als 1 Grad der globalen Erwärmung gegenüber der vorindustriellen Zeit verantwortlich. Die Erwärmung vollzieht sich allerdings nicht überall gleichmäßig. An Land ist sie etwa deutlich stärker als über den Ozeanen. Und in Deutschland ist das Jahresmittel der Lufttemperatur bis 2019 bereits jetzt um 2 Grad angestiegen.
Die globale Durchschnittstemperatur steigt nach den neuen Berechnungen des IPCC unweigerlich in den nächsten zwei Jahrzehnten um 1,5 Grad – oder mehr. Damit steht in Frage, ob die beim historischen Pariser Weltklimagipfel 2015 beschlossenen Ziele überhaupt noch erreicht werden können. Im Pariser Abkommen hatten sich die Staaten erstmals völkerrechtlich verbindlich verpflichtet, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau zu halten und Anstrengungen zu unternehmen, um den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu begrenzen. »Wir sind kurz davor, unsere Ziele zu verpassen, das muss wirklich erkannt werden«, warnt Seneviratne.
Auch die mit Regierungsvertretern ausgehandelte »Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger« macht klar, dass sich die Erderwärmung nur dann auf unter 2 Grad Celsius begrenzen lässt, wenn der CO2-Ausstoß rasch und weit reichend reduziert werde – bis hin zur vollständigen Treibhausgasneutralität zur Jahrhundertmitte. Einer der Schlüsselsätze des Berichts hält fest, dass aus wissenschaftlicher Sicht »mindestens ein Nettonullwert für CO2-Emissionen erreicht werden muss, zusammen mit einer starken Verringerung anderer Treibhausgasemissionen«, will man die globale Erwärmung auf ein bestimmtes Niveau drosseln.
Insgesamt verschärfen die Experten wenige Monate vor dem Weltklimagipfel in Glasgow ihre Einschätzungen noch einmal deutlich gegenüber ihrem letzten Sachstandsbericht von 2014. »Dass wir sicher das Zwei-Grad-Ziel verfehlen werden, wenn die Emissionen nicht schnell heruntergefahren werden, konnten wir in dieser Schärfe im 5. Sachstandsbericht noch nicht festhalten«, sagt Marotzke. Damals hielten die Forscher es unter der Voraussetzung eines Emissionsszenarios mit einer sehr ambitionierten Klimaschutzpolitik noch für möglich, den Temperaturanstieg gegenüber der vorindustriellen Zeit im günstigsten Fall auf 0,9 Grad Celsius zu begrenzen. Wie rasch die Erderwärmung in der kurzen Zeit seitdem vorangeschritten ist, illustriert die Tatsache, dass seit Vorlage des letzten Klimaberichts beispielsweise in Deutschland drei der heißesten Sommer in der Messgeschichte registriert wurden.
Geschwächte Natur absorbiert weniger Treibhausgase
Sorge bereitet den Experten auch die Feststellung, dass die natürlichen Kohlenstoffspeicher wie Wälder und Moore wegen ihres – auch klimawandelbedingt – schlechten ökologischen Zustands längst nicht mehr so viel Kohlenstoff speichern können wie einst erhofft. »Noch ist der Amazonas als Ganzes kein Nettokohlendioxidausscheider – aber er ist auf dem Weg dahin, weil er durch Temperaturextreme, Dürre und Holzeinschlag in seiner ökologischen Fähigkeit geschwächt ist«, sagte vor Kurzem der IPCC-Leitautor Hans-Otto Pörtner.
Diese Entwicklung ist auch deshalb besonders besorgniserregend, weil natürlichen Ökosystemen eine wichtige Rolle im Klimaschutz zugedacht ist. Von »Nature-based Solutions« (NBS) sprechen Fachleute. Einer viel beachteten Studie zufolge können mit NBS mehr als ein Drittel der Kohlenstoffemissionen eingespart werden, die notwendig sind, um die Klimaziele bis 2030 zu erreichen. »Zusätzliche Einsparungen in dieser Größenordnung sind nur möglich, wenn die Ökosysteme intakt sind«, sagt Pörtner. »Dafür ist der Klimaschutz eine absolute Voraussetzung, weil sonst die Ökosysteme das, was sie traditionell getan haben, nicht mehr tun können.«
»Glasgow mindestens so wichtig wie Paris«
Obwohl der IPCC keine direkten Handlungsempfehlungen an die Politik gibt, sehen die Autoren des Sachstandsberichts ihre Arbeit als klare Handreichung auch für die Weltklimakonferenz im Herbst 2021 in Glasgow. »Wir haben den Realitätscheck geliefert«, sagt Eyring. »Der Bericht belegt die Dringlichkeit des Handelns, und ich wünsche mir, dass er zu sofortigen und nachhaltigen Maßnahmen der Entscheidungsträger und der Gesellschaft führt.« Die Atmosphärenforscherin Astrid Kiendler-Scharr vom Forschungszentrum Jülich sieht sogar eine historische Verantwortung für die Regierungen in Schottland. Der Weltklimagipfel in Glasgow werde für die Zukunft der Erde mindestens so wichtig wie Paris, sagt sie im Interview mit »Spektrum.de«. Und die Expertin für Klimaextreme Seneviratne formuliert als ihre Botschaft aus der Arbeit an dem Bericht: »Wenn die Politiker es ernst mit dem Pariser Abkommen meinen, dann ist jetzt der letzte Punkt zu handeln.« Unter den Regierungen der Staatengemeinschaft ist zumindest die Beschreibung der Lage nicht mehr umstritten: Der Bericht wurde am vergangenen Freitag parallel zu den Schlussberatungen der Experten von allen 195 Mitgliedsregierungen des IPCC formell angenommen.
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